Die Geschichtensammlerin – eine kindliche Chronisten ihrer Zeit

Jessica Kasper Kramer
Die Geschichtensammlerin
München: Goldmann Wunderbaum,2020

Cover aus Koha

Standort:SL
Signatur: Kasp

Ein sehr beeindruckendes Buch über die Zustände in Rumänien kurz vor der Revolution 1989 erwartet uns hier.

Die Protagonistin Ileana ist 10 Jahre alt und sie liebt Geschichten. Als Tochter eines Literaturprofessors weiß sie, was Spannungsbögen und Textkomposition bedeuten. Ileanas Onkel Andrej ist ein Schriftsteller, der sich nicht mundot machen lässt. Er schreibt Texte über die wahren Zustände im Land und schmuggelt sie in den Westen. Eines Tages verschwindet er und es liegt nahe, dass er ein Opfer der Securitate geworden ist.

Ileana schreibt Geschichten am liebsten um, besonders die Enden. Sie ist sehr fantasiebegabt und ihre Lieblingsgeschichte ist das „Märchen von der listigen Ileana“. Immer wieder tauchen im Lauf des Romans Kapitel auf, in denen sie sich das Märchen erzählt und weiterspinnt, und sie ist auch nicht zimperlich, wenn es um grausame Momente in ihrer Geschichte geht.

Als die Familie entdeckt, dass die Wohnung verwanzt ist, vernichtet der Vater Ileanas gesammelte Werke, denn sie sind gefährlich, und man schickt das Mädchen Hals über Kopf zu den ihr unbekannten Großeltern aufs Land. Nach anfänglichen Eingewöhnungsschwiergkeiten schließt Ileana die Bewohner des Bergdorfes ins Herz und findet eine beste Freundin. Per Zufall entdeckt sie beim Spielen in einer verfallene Ruine ihren Onkel Andrej, der halbtot ist, und dem man die Folterspuren durch die Securitate deutlich ansieht. Eine alte Dorfbewohnerin versorgt ihn heimlich. Als die Securitate im Dorf auftaucht, hinterlässt Andrej ein Schriftstück in der Hütte der Großeltern, das an Sprengkraft nicht zu überbieten ist. Auch Ileana gerät ins Visier der Securitate. Das Dorf wird systematisch von den Soldaten zerstört und die Bewohner in andere Gegenden des Landes umgesiedelt. so hofft man, den Rebellen in den Bergen die Unterstützung zu entziehen. Die Securitate bedroht nicht nur Ileana, sondern auch alle, die sie liebt, und so muss Ileana sich die beste Geschichte ihres Lebens ausdenken, um so zu sein, wie die „listige Ileana“ in dem Märchen.

Im Laufe des Romans erfährt man sehr viel über die Zustände im Rumänien der 80iger Jahre. Dass mir die Geschichte dieses europäischen Staates so unbekannt war, hat mich fasziniert. Waren wir vielleicht damals so von der Wiedervereinigung abgelenkt, dass man den Zerfall des Warschauer Paktes zwar registriert hat, sich aber nicht mit den einzelnen Ländern beschäftigt hat? Inzwischen gehört Rumänien zur EU, ein Bruder lebt dort, und so habe ich einige Abende im Netz verbrachtund recherchiert. Alle diese Ereignisse werden im Roman, wenn auch aus Kindersicht, thematisiert.

Trotz der oftmals bedrückenden Ereignisse, die geschildert werden, liest sich dieser Roman sehr unterhaltsam und leicht und ich habe eine Nachschicht eingelegt, weil ich endlich das Ende wissen wollte. .

Marie-Therese Fritzen-Einfeldt
(Diplom-Bibliothekarin)