Wer wir sind – Zwei Leser, eine Meinung!

Gorelik, Lena
Wer wir sind
Berlin: Rowohlt, 2021

Standort: Schöne Literatur
Signatur: Gore

„Wer wir sind“ ist ein autobiographischer Roman. Ich gebe zu, er hat mich herausgefordert. Der Einstieg fiel mir nicht leicht und es dauerte ca. 50 Seiten, bis ich mich an Sprache und Stil gewöhnt hatte. Aber dann hat mich die Geschichte gepackt!

Lena kommt als 11- jährige Anfang der 90iger Jahre mit ihrer jüdischen Familie aus Russland nach Deutschland. Die Eltern, beide hochgebildet, studiert und mit akademischen Abschlüssen als Ingenieure, möchten, dass es ihre Kinder einmal leichter und besser haben als in St. Petersburg.

Lena setzt sich sehr ausdrucksstark mit ihrer Kindheit in diesen ersten Jahren in Deutschland auseinander. Mit großen Hoffnungen und vielleicht auch falschen Erwartungen startet die Familie in ihr neues Leben. Sehr schnell wird die Illusion durch die Realität ersetzt. Eineinhalb Jahre lebt die 5-köpfige Familie in äußerst beengten Verhältnissen im Asylantenheim hinter Stacheldraht am Rand einer schwäbischen Kleinstadt. Die Eltern müssen sich mühsam die neue Sprache aneignen, was bis heute nur unzureichend  gelingt. Sie müssen auch feststellen, dass ihre russischen Diplome in Deutschland nicht anerkannt werden und sie außerdem für den deutschen Arbeitsmarkt zu „alt“ sind. Der Vater geht in einer Fabrik einer ungeliebten Arbeit nach, die Mutter geht putzen. Hier wie dort sind sie die „Anderen“ und „Zuhause“ ist und bleibt im Gefühl St. Petersburg.

Lena hat Glück, sie ist intelligent und eine gute Schülerin, sie überspringt eine Klasse und legt ein erstklassiges Abitur ab. Aber für Gleichaltrige bleibt sie immer eine Außenseiterin und Streberin und so wird die Bibliothek einer ihrer Zufluchtsorte. Schon früh möchte sie Schriftstellerin werden, und die Aufnahme an der Journalistenschule in München ist ihr Versuch, ihre Herkunft hinter sich zu lassen. Sie schämt sich anfangs ihrer Herkunft und ihrer Andersartigkeit, auch ihrer Familie und am meisten darüber, dass sie sich schämt.

Erst als sie selbst eine Familie hat, hinterfragt sie ihre Haltung und nähert sich ihrer Familie wieder an.

Besonders gefällt mir an diesem Roman, wie reflektiert die Gedankengänge sind und wie Lena, je erwachsener sie wird, auch anfängt darüber nachzudenken, wie ihre Eltern die ganze Situation erlebt haben. Und welche Gefühle bei ihren Eltern herrschten, die ebenfalls alles Gewohnte und Liebgewordene zurücklassen mussten.

Marie-Therese Fritzen-Einfeldt
(in der Freistellungsphase)

Liebe Leser:innen,
vor einigen Tagen unterhielt ich mich mit Herrn Simon, den die meisten ja noch gut kennen, über dieses Buch und er ließ mir einen Buchtipp zukommen, den er eben dazu verfasst hat. Diesen Tipp möchte ich Ihnen nicht vorenthalten!

Buchtipp:

Lena Gorelik,
Wer wir sind
Rowohlt Berlin 2021, 317 S.

Es ist mindestens das achte Buch der Autorin, bekannt geworden durch auch humorvolle Auseinandersetzungen mit ihrer russisch-jüdischen Herkunft und ihrer deutschen Gegenwart.
So rein autobiographisch waren ihre früheren Bücher nicht, wohl auch nicht so kompromisslos ehrlich. Vor allem ihr Verhältnis zu den Eltern ist das Thema und auch der Wandel des Familienbegriffs – in beiden Kulturen, in beiden Generationen.
Lena Goreliks Gedächtnis ist sehr ergiebig. Sie lässt uns teilhaben an ihrer Erinnerungsarbeit, an den Zweifeln, ob sie alles richtig erinnert; wie sie hadert mit der ihr eigenen schonungslosen Härte sich und ihren Eltern gegenüber – und den deutschen Mitbürgern.
Sie ist 11 Jahre alt, als der Ausreiseantrag ihrer Eltern genehmigt wird, die 4-köpfige Familie samt Großmutter ihre Wurzeln aufgibt und ausgerechnet im Schwäbischen landet. Die hochbegabte Tochter lernt (zu) schnell, leidet unter ihren guten Noten; die sehr gut ausgebildeten Eltern dagegen müssen schmerzhaft erfahren, dass ihre Fähigkeiten und Zeugnisse nicht anerkannt werden, dass sie bestenfalls geduldet (und ausgebeutet werden). Und dann ist da die Pubertät, die einen Keil in die enge Familienbeziehung treibt, die für immer das Verhältnis zueinander belastet. Und die Autorin sogar auf die Psychiater Couch treibt.
Für deutsche Leser: innen keine „einfache“ Lektüre, aber unbedingt spannend und erhellend, besonders für Biografienleser: innen.

Hans-Jürgen Simon