Prekäre Verhältnisse, aber mit Menschenwürde

Herwig, Ulrike
Das Glück am Ende der Straße
München: dtv, 2021

Standort: SL
Signatur Herw

Das Konzert  am vergangenen Wochenende in Kiel „Gegen die Kälte“ zugunsten obdachloser Menschen brachte mich auf die Idee, Ihnen genau dieses Buch zum Lesen zu empfehlen, dass ich gerade vorher beendet hatte.

Elli, alterslos, im Oma-Alter, mit einer erwachsenen Tochter, ist aufgrund einer postnatalen Depression aus ihrem eigentlich gutbürgerlichen Leben in die Obdachlosigkeit abgedriftet. Ihr Mann hat ihr die Tochter aufgrund ihrer psychischen Veranlagung entfremdet und entzogen. Elli hält sich tagsüber im Park auf, nachts schläft sie momentan in einer vermeintlich leerstehenden Gartenlaube. Am Tag besucht sie das Hannah-Haus, wo sie eine kostenlose Mahlzeit und vor allem die Möglichkeit zu duschen und Wäsche zu waschen erhält. Sie ist bestrebt, möglichst unauffällig und ohne Ärger zu provozieren, durch ihren mühsamen Alltag zu kommen.

Im Park lernt sie die Kinder Leonie, Ruben und Fiona kennen. Ihre Eltern: Lisa, eine gestresste Lifestyle-Journalistin, der Vater, Mark, ein begeisterter Technik-Freak, der alles im Haus mit einer App versehen muss, sogar den Kühlschrank, damit man beim Einkaufen sehen kann, was man noch einkaufen sollte.

Aufgrund ihrer Lebenserfahrung hat Elli gute Tipps für die drei Kinder. Für Leonie ist sie eine Ersatz-Oma, denn Leonies Omas sind überall, aber nicht für Leonie da. Ruben wird von Schulkameraden gemobbt, bis Elli ihn zu ihrem Freund Kalle schickt, der dem Jungen zeigt, wie er sich effektiv wehren kann. Fiona wiederum wird von ihrem Freund verlassen und Elli und ein anderer Obdachloser können sie gerade noch retten, bevor Fiona ihrem Leben aus Verzweiflung auf einer Brücke ein Ende setzen will.

Die Mutter der Kinder wundert sich über die Lebensweisheiten, die ihre Jüngste seit Neuestem zum Besten gibt, dass der Mittlere plötzlich anfängt, seine Mitschüler zu schlagen und dass Fiona ihr erzählt, dass Elli sie vom Selbstmord abgehalten hat. Elli versinkt nie in wirkliches Selbstmitleid, Sie ist reflektiert und weiß, dass sie selbst zum größten Teil Schuld an ihrer Lebenssituation hat. Ihre große Liebe, Max, hat sie durch ein dummes Missverständnis für immer verloren. Was mir an diesem Roman besonders gut gefällt, ist die Tatsache, dass sich Elli ihrer Situation bewusst ist, dass sie ihre Würde jederzeit versucht, zu bewahren und sich nicht dem Alkohol ergibt. Elli findet es schrecklich, dass es mit ihr so weit gekommen ist. In Gedanken schreibt sie Briefe an ihre Tochter, in denen sie ihr erklärt, wie alles so gekommen ist und wie sie sie vermisst und ihre Fehler bereut. Elli ist am Ende des Buches durch ihr Leben auf der Straßen schwer krank und nur durch Glück und die Tatsache, dass Leonie ihren Erzählungen aufmerksam zugehört hat, verdankt sie ihre Rettung in letzter Sekunde.

Bei diesem schönen Roman stört mich das Happy End nicht, denn es ist schlüssig. Besonders gefällt mir die Botschaft, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, und dass dieser Grundsatz für alle Menschen gilt, egal ob sie vom Schicksal begünstigt oder benachteiligt sind.

Marie-Therese Fritzen-Einfeldt
(Diplom-Bibliothekarin)